Coelestin V. wird zum Papst gekrönt, Gemälde aus dem 16. Jh.
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Lange Nacht der Kirchen 2011 Wenn dieses Gedenkjahr inzwischen auch seinen Abschluss gefunden hat, so ist die Frage im Jahre 2011 nicht weniger aktuell, was Benedikt XVI. dazu bewog, diesen zweifellos außergewöhnlichen Heiligen, der in den wenigen Monaten seines Wirkens ein Papsttum der anderen Art vorgelebt hatte, in der obengenannten Form zu ehren. Wir wollen in dieser Meditation versuchen, dem Phänomen Coelestin, dem Einsiedler-Papst Petrus vom Berg Morrone, der nach Aussage seines Biographen 87 Jahre gelebt haben soll, auf zweifache Weise näherzukommen: einmal über die Rede Benedikts an jenem 5. Juli 2010 und andererseits über eine Betrachtung des Lebens jenes am 5. Mai 1313 heiliggesprochenen Pietro, der den Großteil seiner Zeit als Eremit in dem abruzzischen Gebirge der Maiella zubrachte. Benedikt hob in seiner Ansprache vier Aspekte heraus, die das Leben Coelestins bestimmten: die Stille freigewählter Einsamkeit, das Wissen um die allumfassende Gnade Gottes, eine lebendige Erfahrung der Schönheit der Schöpfung und die Annahme des Kreuzes Christi als Lebensmittelpunkt. Alle vier genannten Elemente können unser Dasein positiv beeinflussen: Die Stille gibt uns die Möglichkeit, die Stimme Gottes, aber auch die Anliegen des Nächsten zu hören. Die Wahrnehmung der göttlichen Gnade als Angelpunkt menschlichen Lebens macht uns frei, ermöglicht uns einen dankbaren Blick auf den Schöpfer und motiviert uns in der Folge, das Gemeinwohl zu fördern und die Schöpfung zu bewahren. Die Ausrichtung auf das Kreuz gab dem Heiligen und gibt auch uns heute, die klare Einsicht in die unendliche Barmherzigkeit Gottes. Diese Glaubensgewissheit veranlasste Coelestin V., der von ihm im Jahre 1287 gegründeten Kirche Santa Maria di Collemaggio in L’Aquila einen besonderen Ablass, „La Perdonanza“ genannt, zu gewähren, welcher damals nur auf einer Wallfahrt ins Heilige Land erworben werden konnte, nämlich die Vergebung der zeitlichen Sündenstrafen bei Besuch des von ihm auf diese Weise ausgezeichneten Gotteshauses. Diese jeweils am letzten Augustwochenende begangene „Perdonanza“ zählt auch heute noch zu den populärsten religiösen Festen in den Abruzzen, obwohl die alte romanische Basilika durch das Erdbeben ja weitgehend zerstört worden ist. Benedikt beschloss seine Rede anlässlich des Gedenkjahres von Sulmona 2009/10 mit einem dringenden Appell an die Kirche zur Abkehr von der Beschäftigung mit den Dingen der Welt – „dem Geld oder der Kleidung“ –, stets der Vorsehung des Vaters zu vertrauen und besonders den körperlich und geistig Kranken die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Nach der Eucharistiefeier betonte der Papst bei einem Gepräch mit Jugendlichen, sein Vorgänger habe die dem Evangelium gemäße Radikalität und die Barmherzigkeit miteinander verbunden; man darf wohl annehmen, dass Benedikt mit dieser Äußerung auch auf die kirchenhistorisch beispiellose Entscheidung Coelestins anspielte, sein Papsttum nach wenigen Monaten aus freien Stücken wieder abzugeben. Sein Verzicht auf das Amt des Stellvertreters Christi auf Erden bietet den einzigen Fall eines derartigen Rücktritts eines Pontifex, dessen Legitimität nicht bestritten war – wie erst kürzlich P. Klaus Schatz, emeritierter Professor für Kirchengeschichte an der Jesuitenhochschule Sankt Georgen festgestellt hat. Obwohl Benedikt diese Handlungsweise des Pietro del Morrone nur indirekt erwähnte, wollte der frühere Schweizer Weihbischof in Chur Peter Henrici in der erwähnten Reise des Papstes einen Hinweis darauf sehen, „dass es Benedikt XVI. Coelestin eines Tages nachtun könnte“. ZWEITER ERZÄHLER: Doch wie verlief nun das Leben jenes Eremiten des 13. Jahrhunderts, der für kurze Zeit die Geschicke der Christenheit lenken sollte? Peter vom Morrone wurde im Jahre 1209 oder 1210 in der Grafschaft Molise in Unteritalien geboren. In jungen Jahren trat er – unterstützt von seiner Mutter – in den Benediktinerorden ein. Doch seine eigentliche Sehnsucht galt von jeher dem Einsiedlerdasein, dessen Realisierung ja die Regel des Ordensgründers als Möglichkeit durchaus vorsieht. Nach seiner Priesterweihe in Rom wandte er sich Ende der dreißiger oder Anfang der vierziger Jahre des 13. Jahrhunderts jener Gegend zu, welche darauf die eigentliche Stätte seines Eremitendaseins geworden ist, nämlich dem rauhen Bergland um Sulmona. Schon bald sprach es sich herum, dass im Maiella-Gebirge ein frommer Asket wohne, so dass sich Peter schließlich gezwungen sah, vor dem Andrang der Menschen höher hinauf in ein abgelegenes Waldtal zu flüchten. Damals schlossen sich ihm auch die ersten Gefährten an, und im Jahre 1259 erhielt die kleine Gemeinschaft von dem zuständigen Bischof die Erlaubnis, die Kirche S. Maria del Morrone zu errichten. 1263 inkorporierte Papst Urban IV. die Bruderschaft dem Benediktinerorden. Einer späteren, aber nicht unglaubwürdigen, Quelle zufolge betonte Pietro einmal, er habe immer die strenge Armut im Sinne des heilige Franziskus von Assisi geliebt, und er hätte sie auch gerne mit seinen Gefährten angenommen, wenn ihn nicht Papst und Konzil veranlasst hätten, Eigentum im Sinne der älteren monastischen Orden anzunehmen. Da sich die Einsiedlergemeinschaft dieser Aufforderung fügte, stellte Gregor X. ihr Kloster Santo Spirito di Maiella im Jahre 1275 unter päpstlichen Schutz, bestätigte alle seine Besitzungen und regelte die rechtlichen Bedingungen seiner zukünftigen Existenz. Die Verbundenheit mit dem minoritischen Bettelorden sollte aber Peter vom Morrone sein ganzes Leben lang begleiten und auch seine Handlungsweise als Papst bestimmen.
Pietro wohnte jedoch nicht in einem seiner Klöster, sondern
in einer eigenen kleinen Zelle, die sich im Bergland des Morrone befand.
Hier – genauer gesagt in der Einsiedelei Sant’Onofrio – erhielt er im Jahre
1294 die Nachricht von seiner Wahl zum Papst. Dann kam der 5. Juli 1294. Wieder einmal trafen sich – wie wir durch einen gut informierten zeitgenössischen Chronisten wissen - die Kardinäle – seit einigen Monaten in Perugia – zu neuerlichen Beratungen. Dabei standen sie stark unter dem Eindruck eines Unglücksfalls, der den noch in jugendlichem Alter befindlichen Bruder des Kardinals Napoleon Orsini in den Tod gerissen hatte. Unter diesem Eindruck mahnte einer der anwesenden Bischöfe seine Mitbrüder, endlich die Zwietracht zu überwinden und die schon überfällige Wahl zu vollziehen. Gleich darauf erhob sich der Dekan des Kollegiums, Latinus Malabranca, und berichtete von einer Vision, die einem frommen Eremiten zuteil geworden sei. Dieser habe ihm in einem Brief von einer geoffenbarten Strafandrohung Gottes berichtet, welche die Welt treffen würde, wenn die Kardinäle noch länger die Erfüllung ihrer Pflicht versäumen sollten. Durch diese Mitteilung kommt die Persönlichkeit des Eremiten ins Gespräch, sein Name, Peter vom Morrone, wird genannt, und man rühmt allgemein sein frommes, heiligmäßiges Leben. Darauf erhebt sich Latinus neuerlich und gibt formell seine Stimme für Peter ab; diesem Beispiel folgen nach und nach alle übrigen Kardinalbischöfe, auch Benedetto Caëtani, der zukünftige Papst Bonifaz VIII. und spätere Gegenspieler des eben gewählten kirchlichen Oberhauptes. ZWEITER ERZÄHLER: Natürlich wird man mit verschiedenen profanen Motivationen zu rechnen haben, tages- und weltpolitischen, taktischen und berechnenden, welche die Wahl des Pietro del Morrone mitbeeinflussten, auch außenstehende Personen – wie etwa König Karl II. von Neapel - mögen ihre Interessen über Umwege geltend gemacht haben; dennoch – ausschlaggebend für die Hinwendung zu dem Eremiten waren sie wohl nicht. Da wird man schon der gut bezeugten außerordentlichen Wertschätzung des erwähnten Dekans Latinus für Peter mehr Beachtung schenken müssen, der in dem Einsiedler jenen „Lenker von höchster Tugendhaftigkeit und fleckenloser Reinheit“ sah, den er zu Beginn der Wahlverhandlungen eingefordert hatte. Offensichtlich vermochte er seine Bischofskollegen zu überzeugen, dass eine durch und durch spirituelle Persönlichkeit der Kirche größeren Gewinn brächte als ein politischer Papst. Und tatsächlich haben die beiden Colonna-Kardinäle später ausdrücklich erklärt, sie hätten Peter vom Morrone seiner Heiligkeit wegen zum Papst gewählt. Dass sich die religiösen Triebkräfte so unerwartet Bahn brachen, mag uns vielleicht heute fremd anmuten, das in diesem Falle keineswegs finstere Mittelalter kennt hingegen viele Beispiele plötzlicher Umkehr unversöhnlicher Feinde, verstockter Menschen, rücksichtsloser Ausbeuter und Intriganten durch erleuchtende Einsichten und spirituelle Erlebnisse. Doch – so stellt sich nun auch in Hinblick auf unsere Zeit die Frage –lässt sich ein in vielfacher Hinsicht auf weltliche Belange fixiertes Papsttum mit einer nach Heiligkeit strebenden und aufopfernden Religiosität zu einer höheren, spirituellen Synthese verbinden? Es sei bereits hier angemerkt, dass Pietro del Morrone – als Papst Coelestin V. – dazu nicht in der Lage war. Peter erfuhr schon bald nach jenem denkwürdigen 5. Juli 1294 von dem unerwarteten Wahlausgang, und wie nicht anders zu erwarten, war seine spontane Reaktion, sich durch Flucht der auf ihn zukommenden Aufgabe zu entziehen; als er jedoch die vielen durch große Freude und Hoffnung erfüllten Menschen vor seiner Zelle wahrnahm, änderte er schlussendlich gerührt seine Haltung und erklärte sich – wie uns die Quellen berichten – „mit Zittern und Zagen“ bereit, dem Ruf der Kirche zu gehorchen. Als seine Einwilligung feststand, unterzogen sich die Abgesandten der Kurie des mühevollen Anstiegs zur Einsiedelei Sant’Onofrio. Dort erblickten sie einen mehr als achtzigjährigen Greis, dessen bleiches, abgezehrtes Gesicht und seine dürre Gestalt die Gewohnheit eines strengen Fastens verrieten. „Was Wunder“ – so schreibt der bedeutende Historiker Friedrich Baethgen – „dass diese verhärteten, in der Welt der kirchlichen Rechtsstreitigkeiten und des politischen Intrigenspiels großgewordenen Kurialen … erschüttert ihre Häupter entblößten und auf ihr Angesicht niederfielen“. Peter verknüpfte allerdings seine Bereitschaft zur Übernahme des höchsten geistlichen Amtes der Christenheit an die Bedingung, dass Weihe und Krönung in der Kirche seiner Kongregation S. Maria di Collemaggio vor den Toren L’Aquilas vollzogen würden, was dann auch am 29. August geschah. Ebenso setzte der Greis – trotz heftiger Einwände – seinen Wunsch durch –, nach dem Vorbild Jesu in Jerusalem, auf einem Esel einzureiten, eine Entscheidung, welche die Menschen, die das sahen, zutiefst bewegte, denn zu dieser Zeit war die Bereitschaft groß – wie uns zahlreiche Quellen bestätigen –, die Gegenwart als Erfüllung der in der Heiligen Schrift verborgenen Verkündigung zu deuten. (Musik)
ERSTER ERZÄHLER: In unserer Meditation geht es nun
nicht darum, die politischen Fakten des Pontifikats Coelestins zu
beleuchten, das haben die Historiker bereits zur Genüge getan, weder der
Einfluss König Karls II. von Neapel auf Pietro noch seine zum Teil nicht
sehr glücklichen päpstlichen Entscheidungen sollen hier bedacht werden,
vielmehr wollen wir unser Hauptaugenmerk auf die Hoffnung der Menschen
legen, welche diesem Papst, der wie eine Erscheinung aus einer fremden –
zölestischen, also himmlischen – Sphäre anmutete, entgegengebracht wurde.
Diese Hoffnung verspürten wohl vor allem jene Franziskaner, die eine
radikale Befolgung der Regel und des Testamentes des Gründers anstrebten,
die sogenannten „Spiritualen“, ausgegrenzt und verfolgt nicht nur von der
offiziellen Kirche, sondern auch von der Kommunität der eigenen
Ordensgemeinschaft. Ein Angehöriger dieser kompromisslosen Observantengruppe,
der wortgewaltige Dichter Jacobus de Benedictis, der zu den bedeutendsten
religiösen Poeten Italiens im 13. Jh. zählt, heute unter dem Namen
Jacopone da Todi
bekannt, fasste die mit der Wahl des Eremitenpapstes verbundene Erwartung
der Menschen in folgende Worte, die hier in deutscher Übersetzung des
umbrischen Originaltextes von Hertha Federmann wiedergegeben werden sollen: Epistel an Papst Cölestin V., vorher Petro da Morrone genannt Pier Morrone, wie wird’s gehen, wirst die Probe du bestehen? Lass ans Tageslicht nun kommen, was du in der Zell gesponnen, täuschst die Sehnsucht du der Frommen, dich die Welt vermaledeit. Hoch hat sich dein Ruhm geschwungen, alle Welt hat er durchdrungen, wirst du jetzt vom Schmutz bezwungen, gibst du Ärgernis der Christenheit. Du bist Ziel von allen Blicken, die wie Pfeile nach dir zücken, lässt die Waage du verrücken, um Gerechtigkeit zu Gott man schreit. Ob du Kupfer, Gold, ob Eisen, wird die Probe bald erweisen, ob es halten wird, ob reißen, was du spannst, zeigt nun die Zeit. Eine Schmelze ist dies Amt, wo nur reines Gold hält stand. Alles Schlechte wird verbrannt, Asche nur und Schlacke bleibt. Hat dich Ehrgeiz hingerissen, wirst sein Gift bald spüren müssen, wer Gott gibt um solchen Bissen hat sich selbst dem Fluch geweiht. Mitleid hat mich überkommen, als dein JA, ich hab vernommen, hast ein Joch auf dich genommen, das dir droht mit ewgem Leid. Wird ein starker, tapfrer Held in den Sturm hinaus gestellt, aufrecht er die Fahne hält, der er seine Treu geweiht. Groß und heilig ist dein Amt, groß der Sturm um dich entflammt, findst in deiner Hürde Stand eine bunte Schar gereiht. Väterlich sei du mit ihnen, sonst wird dir die Welt nicht dienen, feile Lieb darf nicht erkühnen sich des Throns der Christenheit. Feile Liebe hat den Lohn, drunten auf der Erde schon, denn ihr falscher Lügenton bringt sie um die Seligkeit. Schlimm steht’s mit den Kardinälen, die verlieren ihre Seelen und um Reichtum sich nur quälen, dass sich der Nepot erfreut. Hüt dich vor den Pfründnern gut, hungrig stets nach Geld und Gut, nichts löscht ihres Durstes Wut und kein Trunk davon befreit. Hüt dich Schmeichler anzuhören, welche Schwarz in Weiß verkehren, weißt du dich nicht gut zu wehren, singst du einst ein Lied voll Leid. (Musik) ZWEITER ERZÄHLER: Tatsächlich wurden die Spiritualen von Coelestin nicht enttäuscht, denn sie erhielten von ihm die Erlaubnis, einen eigenen Orden mit dem Namen „Pauperes Eremitae Domini Coelestini“, zu bilden, den man jedoch nach dem kurzen Pontifikat des Pietro del Morrone wieder unterdrückte, und so dieser Bruderschaft ihre eben gefundene Heimat erneut raubte. Nicht zu bezweifeln ist der Umstand, dass der neue Papst spirituelle und ekklesiale Ziele vor Augen hatte, die sich von jenen der römischen Kurie wesentlich unterschieden. Das wird sicherlich ein Hauptgrund gewesen sein, weshalb sich Coelestin nach seiner Inauguration nicht in den Kirchenstaat begab, sondern mit König Karl II. nach Neapel zog. Lassen wir nochmals den Historiker Friedrich BAETHGEN zu Wort kommen, der die pastoralen Absichten Peters folgendermaßen beschreibt: „Man kann … vermuten, dass er vor allem daran dachte, der erstrebten Reorganisation der allgemeinen Kirche durch eine Wiederbelebung des asketisch-monastischen Ideals in seiner klassischen Ausprägung den Boden zu bereiten, durch eine Neugestaltung und innere Läuterung derjenigen Orden also, mit denen seine eigene Bruderschaft durch äußere Bande oder durch die Verwandtschaft der Daseinsformen und Gewohnheiten verbunden war.“ Blieben die Vorhaben des Papstes auch weitgehend unausgeführt, so hat er doch durch die schon erwähnte „Perdonanza“ für seine Krönungskirche S. Maria di Collemaggio ein klares Zeichen seiner christlichen Botschaft gesetzt. Es war die Verkündigung einer Frohbotschaft, einer Befreiung aus der Knechtschaft der Sünde für alle Menschen guten Willens durch die göttliche Gnade. Zwar wurde die Ablassbulle Coelestins durch seinen Nachfolger Bonifaz wegen ihres revolutionären Inhalts wieder kassiert, doch spätere Päpste haben sie dann erneut bestätigt, so dass sie noch heute jedes Jahr am Krönungstag Pietros, also am 29. August, feierlich verlesen werden kann. Die Gegensätze, welche zwischen Coelestin und der römischen Kurie von Anfang an spürbar waren, brachten aber schließlich ein jähes Ende dieses außergewöhnlichen Pontifikates. Geleitet von dem Gefühl des eigenen Ungenügens und Versagens bot der Eremitenpapst nach kaum mehr als sechs Monaten vor dem Kardinalskollegium seinen Rücktritt an. Er ließ sich von Benedetto Caëtani, der inzwischen zum einflussreichsten Repräsentanten der Kurie aufgestiegen war, die Verzichtserklärung aufsetzen, und am 13. Dezember 1294 stieg Pietro Celestino von dem Thronsessel herab, entledigte sich der äußeren Abzeichen seiner Würde, legte die raue graue Kutte seines Ordens an und setzte sich auf die unterste Stufe des päpstlichen Podestes. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass nach dem frommen Asketen Coelestin mit Benedetto Caëtani-Bonifaz VIII. – gleichsam wie ein Gegenpendelschlag - ein Papst nachfolgte, der eine ganz dem Diesseits zugewandte Herrschernatur war. Das Papsttum beschritt nach dem gescheiterten Versuch einer inneren Regeneration der Kirche, auf die so viele Menschen ihre Hoffnungen gesetzt hatten, mit absoluter Entschiedenheit wieder den Weg zur Hierarchie, zu politischer Macht und zu irdischer Größe. Höchst eindrucksvoll hat der 1978 verstorbene italienische Schriftsteller Ignazio SILONE in seinem Buch L’avventura d’un povero Cristiano - von Hanna DEHIO im Jahre 1969 unter dem Titel Das Abenteuer eines armen Christen ins Deutsche übertragen - in seinem letzten Abschnitt eine Gegenüberstellung des eben gewählten Papstes Bonifaz und des zurückgetretenen Pietro Celestino vorgenommen, die er in Dialogform seinem Publikum präsentiert. Hier treffen im Palast der Caëtani ein hochmütiger und triumphalistischer, auf weltliche Macht bedachter Papst und ein schwächlicher Greis in seiner ganzen Machtlosigkeit aufeinander. Es ist lohnend, sich zumindest geraffte Ausschnitte dieser Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen aus grundverschiedenen Welten vor Augen zu stellen, da hier absolut konträre Formen von Kirchenverständnis anklingen, deren Konsequenzen in ihren Grundsätzen auch heute nichts an Aktualität eingebüßt haben.
In einem großen Saal, dessen Zentrum ein Thron bildet, steht
in einer Ecke Pietro Celestino, der sich vor Schwäche auf die Fensterbank
stützt. Dann tritt Bonifaz VIII. ein und steuert sofort auf seinen
häuslichen Thron zu. Nach einem einleitenden Wortgeplänkel, in dem der neue
Papst sogar eine gewisse Sympathie gegenüber dem Verhalten Peters zum
Ausdruck bringt (
BONIFAZ:
„ … in den ersten Wochen Eures Pontifikates fühlte ich
mich zu Euch hingezogen durch eine echte Zuneigung und bewunderte Euch als
einen Menschen, der einem nur im Märchen oder im Traum begegnet“), kommt
er dann sofort auf die Schwierigkeiten zu sprechen, mit denen er seit seiner
Amtsübernahme konfrontiert ist, in der Absicht, Pietro Celestino als
Kollaborateur zu gewinnen. |
Meditationen: • Antonius von Padua (2009) • Giordano da Giano (2009) • Jacopone von Todi (2009) • Franziskus (2010) • Coelestin V. (2011) • Westportal (2011) • Ludwig von Toulouse (2012) • Heilige der Kongregation (2013) • Heilige Cäcilie (2014) • 790 Jahre Minoriten (2014) • 230 Jahre Maria Schnee (2014) • Klemens M. Hofbauer (2014) • Katharinenkapelle (2015) • 390 Jahre It. Kongregation (2015) • Frauen im Banne der Minoritenkirche (2016) • Eine Liebeserklärung in Stein (2016) • Franziskus v. Assisi (2018) L.N.K. in der Minoritenkirche
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Bonifaz VIII. gespielt von Dr. Zips |
BONIFAZ: Ihr kommt aus der Einsamkeit, und es ist daher verständlich, dass Euch gewisse ernste Vorfälle unbekannt geblieben sind, die sich in der letzten Zeit abgespielt haben … Ein Zusammenstoß zwischen dem Kirchenstaat und Eduard von England und Philipp dem Schönen von Frankreich ist unvermeidlich geworden. Ich werde mich auf keinen Kompromiss einlassen. Der Augenblick ist gekommen, da in aller Form vor der ganzen Christenheit und vor allen Staaten die grundlegende Frage der Suprematie geklärt werden muss … Die römische Kirche muss zu der großen Konzeption von Papst Innozenz III. zurückkehren … Wer kann sich uns entgegenstellen? Welche wirkliche Macht? Und von welcher Idee getragen?Wie Gregor der Große den Augenblick zu nutzen wusste, da das byzantinische Kaiserreich daniederlag … PIETRO CELESTINO: Erlaubt Ihr mir ein Wort? Ich muss Euch gestehen, dass meine Sorgen anderer Natur sind. Ich bin erschüttert über die fortschreitende Verweltlichung der Kirche. Diese ist kaum wiederzuerkennen. BONIFAZ: Begreift Ihr denn nicht, dass die Kirche sich in diesem Augenblick nicht vom Schauplatz der Politik zurückziehen und passiv bleiben kann? Was wird aus Europa und der Christenheit werden, wenn wir nicht mit Mut und Entschlossenheit eingreifen? Bevor es zu spät ist, muss die Kirche ihre Superiorität über den ganzen weltlichen Bereich erklären … Christus hat uns die Macht verliehen, zu binden und zu lösen, im Himmel und auf Erden. Paulus hat das im Römerbrief gültig formuliert: Alle Macht kommt von Gott. PIETRO CELESTINO: Macht scheint mir nicht erstrebenswert. Das christliche Gebot, das alle anderen einschließt, ist das Gebot der Liebe. Im Laufe meines Lebens ist mir klar geworden: die Wurzel allen Übels für die Kirche liegt in der Versuchung, die von der Macht ausgeht. Das Christentum darf sich aber nicht in der Welt einrichten, als wäre sie von ewiger Dauer. Was ist aus dem Christentum geworden! Wir vergessen immer wieder: das Christentum begann mit dem Kreuz. Doch was ist das Kreuz für die Christen von heute? Nur noch ein Ornament, ein Stück Tradition? BONIFAZ: Der Ausdruck christlich bezeichnet das Ziel, den Zweck, die Absicht. Die politische Macht besteht, und da Ihr nicht imstande seid sie abzuschaffen, so frage ich Euch: wollt Ihr sie den Feinden der Kirche überlassen? Das ist der entscheidende Punkt. Alles andere ist Schall und Rauch. PIETRO CELESTINO: Wenn wir einander auch nicht überzeugen können, versuchen wir doch wenigstens uns zu verstehen: Wenn wir von Realitäten sprechen, mit denen man rechnen muss, so denkt Ihr an Institutionen, ich hingegen denke an das, was den Menschen unsterblich macht. Gott hat den Menschen geschaffen, nicht Institutionen, weder Reiche noch Nationen. Das Königreich von Neapel, das englische und das französische Reich und alle anderen Staaten werden trotz ihrer jetzigen Macht und ihres Prunkes ins Nichts zurückkehren. Wir wissen, dass Vernunft, gesunder Menschenverstand und andere natürliche Tugenden schon vor Christus bestanden haben. Was hat uns Christus darüber hinaus gebracht? Gerade einige scheinbar unsinnige Gebote. Er hat gesagt: Liebet die Armut, liebet die Erniedrigten und Beleidigten, liebet eure Feinde, kümmert euch nicht um Macht, Laufbahn, Ehren, das sind vergängliche Dinge, die der menschlichen Unsterblichkeit nicht würdig sind. BONIFAZ: Genug davon, mir sind diese Mahnreden, die eines Landpfarrers würdig wären, unerträglich. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, sage ich Euch, was ich in meiner Eigenschaft als Papst von Euch verlange, denn ich werde nicht auf die mir von Gott verliehene Vollmacht verzichten zu entthronen, zu exkommunizieren, zu verdammen. PIETRO CELESTINO: Übt Milde! Unser Herr selbst gab uns das Beispiel. Steck das Schwert in die Scheide, befahl er Petrus. Wenn wir unsere Gegner nicht im Guten überzeugen können – durch Worte und durch Handlungen – wie können wir dann hoffen, sie mit Drohungen zu gewinnen? BONIFAZ: Schluss mit dieser unnötigen Diskussion! Antwortet vielmehr auf meine Fragen: Seid ihr bereit, die Ansichten und die ketzerischen Handlungen der radikalen Franziskaner, die man Spiritualen nennt, öffentlich zu verurteilen? PIETRO CELESTINO: Ich habe keinen Grund, an ihrer aufrichtigen Überzeugung zu zweifeln. Wie könnte ich mich zum Richter über ihr Gewissen aufwerfen? BONIFAZ: Ihr wagt es, sie in Schutz zu nehmen? Wisst Ihr nicht, dass es ihnen vor einigen Tagen gelungen ist, eine blasphemische Schrift bis nach Rom gelangen zu lassen? Ich versichere Euch, dass diese Eure Freunde mir früher oder später in die Hände fallen und dann die Strafe erhalten werden, die sie verdienen. PIETRO CELESTINO: Es könnte sein, dass in Gottes Augen die Ehre des christlichen Namens in unserem traurigen Jahrhundert diesen armen Verbannten anvertraut ist. BONIFAZ (von rasendem Zorn ergriffen): Ihr wagt es, in meinem Hause diese Unseligen nicht nur zu verteidigen, sondern auch noch zu rechtfertigen? Ihr ahnt nicht, was Euch zustoßen kann. PIETRO CELESTINO: Für mich fürchte ich nichts mehr, aber ich zittere um Eure Seele. BONIFAZ: Ich befehle Euch zu schweigen! Ich verlange nichts mehr von Euch, und wir haben einander nichts mehr zu sagen. Ihr habt die Hand zurückgestoßen, die ich Euch gereicht habe, und es hat keinen Sinn mehr, dass Ihr weiter in meinem Hause bleibt. PIETRO CELESTINO: In diesem Hause war ich nicht Gast, sondern Gefangener. Wenn Ihr mich jetzt fortschicken wollt, so ist es mir recht. Gebt Ihr mich meinen Söhnen wieder? BONIFAZ: Wie könnt Ihr es wagen, das zu hoffen? Nein, Ihr werdet die Strafe erhalten, die Ihr verdient. PIETRO CELESTINO: Ich werde für Euch beten! ZWEITER ERZÄHLER: Wenn dieser Dialog auch von einem zeitgenössischen Autor stammt und wohl nicht in der hier dargelegten Form stattgefunden hat, so zeugt er doch von einem außerordentlichen Einfühlungsvermögen in die historischen Gegebenheiten. Bonifaz, der geschickte politische Taktierer, wusste genau, dass er Pietro Celestino nicht wieder in seine Einsiedelei zurückkehren lassen dürfe, damit sich nicht die Person seines Vorgängers, dessen Pontifikat auf so ungewöhnliche Weise ihr Ende fand, in der Hand seiner Feinde, die er von Anfang an hatte, zu einem gefährlichen Werkzeug entwickeln würde. Noch immer übte Coelestin ja auf die Menschen eine starke Anziehungskraft aus, obwohl dieser auch nach seiner Abdankung mehrfach beteuerte, diesen seinen Schritt niemals bereut zu haben. Doch Benedetto Caëtani war sich völlig im Klaren, dass von seinem Vorgänger eine große Gefahr ausging. Aus diesem Grund hatte er Pietro Celestino verfolgen und nach dessen Festnahme in seinen Palast in Anagni bringen lassen. Danach übersiedelte man den Greis in das nahegelegene Kastell Fumone, wo er in strenger Haft den Rest seines Lebens verbrachte. Es wurde ihm – nach eigenen Wünschen – ein enger Raum zugewiesen, der seiner Zelle auf dem Monte Morrone ähnelte. Hier ist er nach zehn Monaten, am 19. Mai 1296, verstorben. Der Leichnam wurde auf Anordnung von Bonifaz, der in Rom selber die Totenmesse für seinen Vorgänger las, in der Ordenskirche der Coelestiner S. Antonio in Ferentino, nahe Anagni, beigesetzt. Erst im Jahre 1327 – also nach seiner Heiligsprechung – überführte man die sterblichen Überreste Coelestins V. in seine Krönungskirche S. Maria di Collemaggio. Mag die Kanonisationsbulle vom 5. Mai 1313 auch mit rühmenden Worten auf den freiwilligen Rücktritt des Papstes Bezug nehmen und ein Chronist der damaligen Zeit darin ein Muster der Demütigung und Selbsterniedrigung erblicken, das von niemandem oder doch nur von wenigen nachgeahmt werden könne und deshalb die höchste Bewunderung verdiene, so manifestiert sich die Heiligkeit des Bruder Petrus zweifellos in der Gesamtheit seines Lebens, dessen Zentrum das Kreuz Christi und die damit verbundene Liebe Gottes zu den Menschen bildete. Benedikt XVI. fasste diesen Umstand in die Worte: „Das Kreuz gab dem heiligen Pietro Celestino ein klares Wissen um die Sünde, immer begleitet von einer ebenso klaren Einsicht in die unendliche Barmherzigkeit Gottes für seine Geschöpfe“. Dieser auch als Auftrag an die heutige Kirche formulierte Appell scheint mir wichtiger zu sein als jene Spekulation, ob auch der jetzige Papst eines Tages zurücktreten wolle und damit einen anderen Weg einzuschlagen beabsichtige als sein Vorgänger Johannes Paul II. Manfred Zips |
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